Neue Mindestmengen-Regelung für Säuglinge unter 1.250 Gramm in Perinatalzentren / Landkreistag Baden-Württemberg und Rems-Murr-Kreis üben Kritik
Winnenden. Frühgeborene und kranke Neugeborene sind von 2024 an in Gefahr, und zwar vor allem im ländlichen Raum: Die flächendeckende Versorgung der Risiko-Babys steht auf dem Spiel – und damit die Gesundheit der Allerkleinsten und Schwächsten. Grund ist eine Neuregelung, die der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) von 2024 an plant: Die Mindestmenge für die Versorgung früh- und reifgeborener Säuglinge, die weniger als 1.250 Gramm wiegen, soll in deutschen Perinatalzentren mit Level 1 von bisher 14 auf 25 hochgesetzt werden.
Perinatalzentren bündeln in modernen Kliniken die Fachkompetenzen aus Geburtsmedizin und Kinderintensivmedizin (Neonatologie). In Baden-Württemberg gibt es 21 Perinatalzentren mit Level 1, also Zentren der höchsten Versorgungsstufe. „Auch am Rems-Murr-Klinikum Winnenden verfügen wir über ein Perinatalzentrum Level 1 – übrigens das einzige in Baden-Württemberg, welches von der unabhängigen Institution ‚Perizert‘ zertifiziert und damit neutral qualitätsgeprüft wird“, sagt Landrat Dr. Richard Sigel, Aufsichtsratsvorsitzender der Rems-Murr-Kliniken. „Wir sind stolz auf das Team aus Ärzten, Hebammen, Pflegefachkräften und Therapeuten, welches hier fachlich und menschlich Großartiges leistet. Viele Eltern sind sehr dankbar, dass wir ihren Kleinsten hier im Kreis wohnortnah einen gesunden Start ins Leben ermöglichen konnten. Deshalb appellieren wir dringend, die bisher bestehende Mindestmengenregelung beizubehalten oder diese allenfalls von 25 auf 20 zu senken, so wie es übergangsweise für 2023 vorgesehen ist. Eine noch schärfere Mindestmengen-Regelung konterkariert alle fachlichen Bemühungen in der Geburtsmedizin und setzt einen völlig falschen Anreiz. Das kann nicht Ziel der Gesundheitspolitik sein.“
Warum ist der Anreiz falsch? Klinik-Geschäftsführer André Mertel erklärt: „Mindestmengen-Regelungen können in der Medizin ein sinnvolles Mittel sein, um die Qualität etwa bei planbaren Eingriffen wie dem Ersatz von Knie- oder Hüftgelenken zu steuern. Doch wenn es darum geht, das Leben eines Frühchens zu retten und in seine Zukunft zu investieren, dürfen wir uns nicht an fixen Zahlen orientieren, die falsche Anreize setzen. Belohnt würde mit einer solchen rigiden Mindestmengenregelung, wer ‚Frühchen‘ zugunsten der Quote früher zur Welt kommen lässt, als es medizinisch sinnvoll und möglich ist.“ Wie sinnvoll und engagiert im Winnender Perinatalzentrum pro Baby gearbeitet wird, zeige sich an vielen Projekten, die dem Wohl der Familien dienen. „Da ist zum Beispiel der Aufbau unserer Frauenmilchbank, die wir als drittes Klinikum in Baden-Württemberg geschaffen haben – eine Starthilfe für die gesunde Entwicklung Früh- und Neugeborener, die unser Team stetig ausbaut.“
Solchen lebenswichtigen Initiativen droht in mehr als der Hälfte aller Perinatalzentren, Level 1, in Baden-Württemberg das Aus, wenn die Mindestgrenze von 14 auf 25 steigt. Beispiel Winnenden: 2021 hat das hiesige Klinikteam 16 sehr kleine Frühgeborene unter 1.250 Gramm betreut, 2022 waren es 27. „Eine solche Schwankung ist ganz natürlich. Schließlich ist eine Frühgeburt kein planbares Ereignis und keines, das man sich wünscht“, so Mertel. „Dennoch sollten Eltern wissen, dass sie Experten in der Nähe haben, bei denen ihr Kind im Fall der Fälle in guten Händen ist.“
Falls 53 Prozent der Perinatalzentren schließen, drohen dramatische gesundheitliche Folgen für die empfindlichsten kleinen Babys. „Sie brauchen bereits vor der Geburt bestmögliche medizinische Unterstützung für ihre körperliche und psychische Reifung. Es ist wichtig, dass sie eben nicht zu früh zur Welt kommen, sondern mit speziellen Techniken so lange wie möglich im schützenden Bauch der Mutter gehalten werden“, sagt Professor Dr. Ralf Rauch, Chefarzt der Winnender Kinder- und Jugendmedizin. „Dafür sind unsere örtlichen Spezialisten ausgebildet, und dafür braucht es ein stabiles, ausreichend dichtes Netz an Perinatalzentren dieser Güte.“
Fragile Frühchen mit einem Geburtsgewicht unter 1250 Gramm haben keine Zeit für lange Transporte, wenn lebensbedrohliche Komplikationen wie Hirnblutung oder Darmperforation auftreten. Manche Babys brauchen sofortige intensivmedizinische Betreuung durch ein hochqualifiziertes Team. Für sie ist die Versorgung in einem Perinatalzentrum mit höchster Kompetenz in der Geburts- und Kinderintensivmedizin überlebenswichtig. Mit der Mindestmengen-Neuregelung wäre die Versorgungsstruktur für solche Notfälle, die nicht verlegt werden können, ebenso gefährdet wie die adäquate medizinische Versorgung der Frühgeborenen und kranken Neugeborenen. Mehr noch: Auch für alle Früh- und Reifgeborenen mit einem Geburtsgewicht über 1.250 Gramm ist die sichere Versorgung in einem Perinatalzentrum ein Segen. „Die Entscheidung des G-BA zur Erhöhung der Mindestmenge wird folglich auch die Entwicklungschancen von Kindern mit einem höheren Geburtsgewicht verschlechtern“, prophezeien Landrat Dr. Sigel und die Klinik-Fachleute. „Wo und wie solche Kinder in Baden-Württemberg von 2024 an behandelt werden sollen, bereitet uns an den Rems-Murr-Kliniken große Sorgen. Selbst wenn wir an unserem Standort Winnenden gute Chancen haben, die Mindestmengen zu erreichen, liegt uns doch auch die gesamte Versorgung der Jüngsten im Land sehr am Herzen.“